Es ist genau 25 Jahre her, da rief mich ein Freund aus München in Wien an. Er war sehr aufgeregt und meldete sich für einen spontanen Besuch an. Er wolle Freunde aus der DDR abholen, die gerade über die geöffnete ungarische Grenze nach Österreich gekommen seien.
Es waren turbulente Tage, damals im Herbst 1989. Die Nachrichten über die politischen Veränderungen in Ost- und Mitteleuropa überschlugen sich. Alles, was wir in der Schule über die politische Lage Europas gelernt hatten, die scheinbar für immer bestehende Trennung zwischen West und Ost, das geriet in diesen Wochen und Monaten durcheinander.
Und das Erstaunlichste daran war: Die Gewalt blieb aus.
Das hatte so niemand erwartet. Die Friedensgebete in der evangelischen Nikolaikirche in Leipzig waren ein wichtiger Motor dieser weltpolitischen Umwälzungen. Ein Ruf der Menschen, die nach den Gebeten auf die Leipziger Straßen gingen, wo schon die Panzer auffuhren, war: „Keine Gewalt!“
Eine neue Weltordnung?
Es ist wichtig, gerade in diesen Tagen an den Herbst 1989 zu erinnern. Die Welt kann sich verändern, Grenzen werden geöffnet und es geht auch ohne Krieg – so war die optimistische Stimmung unter vielen jungen Menschen, auch in Österreich. Ein beliebtes Bild war das vom „gemeinsamen Haus Europa“, eine Vision des damaligen Staatschefs der Sowjetunion Michail Gorbatschow, und er meinte ein Europa vom Atlantik bis zum Ural, also inklusive Ukraine und Russland.
Vor kurzem habe ich eine Meldung über eine Veranstaltung in Wien gelesen, an der zehn österreichische Botschafter, vorwiegend aus aktuellen Krisenregionen, teilgenommen haben. Der Tenor der Stimmen war: Es bahnt sich eine neue Weltordnung an. Heute, 25 Jahre nach dem Herbst 1989, klingt eine solche Meldung alles andere als optimistisch. Die angespannte Situation in der Ukraine, die unübersichtliche Entwicklung im Irak und in Syrien machen vielen wachen Menschen Angst, auch bei uns.
Friedenserziehung als Gebot der Stunde
Sehr schnell werden wieder Stimmen laut: Neue Waffen müssen her! Eine Mauer soll gebaut werden! Gewalt muss mit Gegengewalt beantwortet werden!
Ist das wirklich die einzige mögliche Reaktion?
Mir ist klar, dass die Situation vom Herbst 1989 nicht mit den Konflikten unserer Tage vergleichbar ist. Aber die Frage nach alternativen Strategien zur Gegengewalt muss erlaubt sein.
Gerade in diesem Gedenkjahr 2014, in dem wir an die unsäglichen Gewalttaten der beiden Weltkriege erinnert werden, sollte die Suche nach dem Frieden im Vordergrund stehen. Diese Suche ist nicht nur Sache der Politik und der Diplomatie, sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die Friedenserziehung an den Schulen ist ein Bereich, der noch viel mehr ausgebaut werden müsste. Wo lernen junge Menschen mit Konflikten umzugehen? Wie kann verhindert werden, dass die schrecklichen Bilder von Enthauptungen im Internet zur Verherrlichung von Gewalt führen?
Kinder und Jugendliche werden oft alleine gelassen mit den grausamen Botschaften, die über die Medien zu ihnen kommen. Viele kennen gar keinen anderen Weg, als Konflikte gewaltsam auszutragen. Das muss nicht mit Fäusten geschehen, die modernen Formen von Gewalt heißen Cyber-bullying oder Internet-mobbing. Via Handy werden Außenseiter schikaniert und in den sozialen Netzwerken bloßgestellt.
Hier muss der Täter seinem Opfer nicht einmal ins Gesicht schauen. Viele haben überhaupt kein Unrechtsbewusstsein, dass sie so Gewalt ausüben.
„Keine Gewalt!“ war 1989 der Ruf der Menschen auf den Straßen von Leipzig.
Es ist die Botschaft des Jesus von Nazareth.
Sie wurde und wird von vielen als naiv belächelt – und doch hat sie immer wieder Menschen begeistert, religiöse und nicht-religiöse.
Erziehung zum Frieden und zur Gewaltfreiheit erfordert Phantasie und einen langen Atem. Als Religionslehrer und als Vater weiß ich, wovon ich spreche. Überzeugende Alternativen zu diesem Weg habe ich nicht kennengelernt.
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