Vom Beginn bis zum Ende unseres Lebens sind wir damit beschäftigt. Unsere Wege werden von Sehnsüchten, Ängsten, Hoffnungen und Schmerzen begleitet. Das Wichtigste ist: Du bist nie allein!
Hänschen klein…
Erste Schritte ins eigenständige Leben
Meine dreijährige Tochter Frida singt gerne Kinderlieder.
Ein Lied hat sie von Anfang an sehr beeindruckt.
Sie kennen es bestimmt:
Hänschen klein
ging allein
In die weite Welt hinein.
Stock und Hut
Steht ihm gut,
Ist gar wohlgemut.
Wissen Sie noch, wie es weitergeht?
Das ist gar nicht so leicht zu beantworten – da gibt es nämlich verschiedene Varianten.
Ich habe es aus meiner Kindheit so in Erinnerung:
Aber Mutter weinet sehr,
Hat ja nun kein Hänschen mehr!
Da besinnt
sich das Kind,
Kehrt nach Haus geschwind.
Das Weggehen des Kindes wird durch die Traurigkeit der Mutter unmöglich gemacht. Hänschen hat keine Chance, sich von der Mutter loszulösen und seine eigenen Wege zu gehen.
Die ursprüngliche Version geht aber anders:
„Wünsch dir Glück!“
Sagt ihr Blick,
„Kehr’ nur bald zurück!“
Hier weiß die Mutter, dass es wichtig ist, Kinder auch loslassen zu können.
Ein schmerzhafter, aber notwendiger Prozess für Mütter und Väter.
Kinder wollen schon sehr früh lernen, eigenständig zu sein. Frida fällt jeden Tag etwas Neues ein, was sie jetzt schon selber kann. Manchmal klappt es, manchmal geht es schief.
Es sind die ersten Schritte in ein eigenes Leben. Im Moment machen sie mich als Vater noch stolz. Natürlich weiß ich, dass es einmal auch Schritte geben wird, die für mich nicht so leicht sind. „Wünsch Dir Glück!“ – Das denke ich mir, wenn Frida darauf besteht, eigene Erfahrungen zu machen. Aber auch – ich gestehe es: „Kehr nur bald zurück!“
Offene Arme für zwei Söhne
Für Eltern ist es oft nicht leicht, die unterschiedlichen Lebenswege der Kinder zu akzeptieren.
Weggehen – eigene Wege gehen, eigene Erfahrungen machen…
Das ist eine ur-menschliche Sehnsucht, die zum Erwachsenwerden dazugehört.
Es gibt eine alte Geschichte von einem Vater mit zwei Söhnen. Der jüngere lässt sich das Erbe ausbezahlen und zieht los in die Fremde. Dort gerät er auf die schiefe Bahn, verprasst das ganze Geld und landet schließlich ganz unten als Schweinehirt.
Als er nicht mehr weiterweiß, beschließt er, nach Hause zurückzukehren und seinen Vater zu bitten, ihn wenigstens als Taglöhner anzustellen.
Wie würden Sie in so einer Situation als Vater oder Mutter reagieren?
Das Kind ganz unten, in der Drogenszene oder im Gefängnis, kommt zurück nach Hause?
In der Geschichte läuft der Vater dem Sohn mit offenen Armen entgegen und organisiert für ihn ein Riesenfest! Keine lästigen Fragen, keine Vorwürfe, einfach nur Freude über den Rückkehrer!
Der einzige, der damit ein Problem hat, ist der ältere Sohn. Er fühlt sich vom Vater ungerecht behandelt. Für ihn gab es noch nie ein Fest! Er hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen!
Zwei Brüder – zwei völlig unterschiedliche Typen. Welcher von ihnen ist der verlorene Sohn? Vielleicht hat ja jetzt der Ältere das Gefühl, dass ihm etwas fehlt, dass er, obwohl zu Hause geblieben, doch irgendwie verloren gegangen ist?
Für Eltern ist es oft nicht leicht, die unterschiedlichen Lebenswege der Kinder zu akzeptieren. Die offenen Arme des Vaters für beide Söhne sind alles andere als selbstverständlich. Sie sind ein wunderbares Bild dafür, dass es nach jedem Scheitern einen neuen Anfang geben kann.
Sehnsucht nach dem Paradies
Eine Seite des Lebens in mir entdecken, die im Alltag scheinbar keinen Platz hat
Für viele geht die Urlaubszeit in diesen Tagen zu Ende.
Ich war mit meiner Familie zwei Wochen in Italien auf einem Campingplatz.
Mitten in einer fröhlichen Nomadengesellschaft: Niederländische Wohnwagencamper, englische Sonnenhungrige, deutsche Familien.
Was ist es eigentlich, was so viele Menschen bewegt, in diesen Sommerwochen hunderte und tausende Kilometer zurückzulegen?
Erholung am Strand, Baden im Meer, natürlich sind das vordergründig die wichtigsten Motive für einen Mittelmeerurlaub. Ich meine aber, es gibt noch eine andere Sehnsucht, die viele bewegt und antreibt:
Wenigstens einmal im Jahr in einer ganz anderen Umgebung sein, mit ganz anderen Menschen zu tun haben, selbst ein anderer Mensch sein.
Die Erwartungen an diese Urlaubswochen sind oft hoch gesteckt: Alles, was im Alltag zu kurz kommt, soll jetzt möglichst Platz haben: Zeit für Gespräche in der Familie, Zeit für gemeinsame Spiele oder eine gute Lektüre, Zeit für die Liebe.
Wenigstens zwei Wochen im Jahr soll ein Stück Paradies ins Leben Einzug halten.
Weggehen aus der vertrauten Umgebung hat oft etwas mit dieser Suche nach dem Paradies, nach einem kleinen Stück ungestörtem und vollkommenem Glück zu tun. Es ist die Hoffnung, etwas von dem zu finden, was ich zu Hause im Alltag vermisse. Es ist die Hoffnung, eine andere Seite auch in mir selbst zu entdecken, die sonst scheinbar keinen Platz hat.
Wir leben nicht im Paradies, auch nicht im Urlaub. Aber die Sehnsucht danach neu entdecken, schon das kann mich verwandeln.
Kalender als Hoffnungszeichen
Auch in der Fremde des Gefängnisses geht das Leben weiter.
Für manche Menschen ist der Entschluss, von zu Hause wegzugehen, nicht freiwillig. Ich denke an die Insassen in den Gefängnissen. Manche sind nur für ein paar Monate weg, andere für mehrere Jahre.
Ich feiere seit einem Jahr jeden Monat in der Justizanstalt Wels Gottesdienst mit Haftinsassen. Seitdem hat die Institution Gefängnis für mich ein menschliches Antlitz bekommen. Frauen und Männer aus verschiedenen Ländern kommen zu den Gottesdiensten. Sie sind hier wegen unterschiedlichen Delikten: Drogenhandel, Betrug – auch Mord.
Meine Aufgabe ist, diesen Menschen das Evangelium der Liebe Gottes und der Freiheit weiterzusagen. Ja, auch ihnen gilt diese Botschaft, gerade ihnen!
Sie sind von zu Hause weggegangen – unfreiwillig. Sie sind getrennt von ihren Familien, ihren Freunden und Freundinnen. Viele leben in Sorge, ob sie ihre Beziehungen nach der Rückkehr aufrecht erhalten können. Kontakte während der Haft sind lebenswichtig, überlebenswichtig.
Immer wieder kommen Insassen nach den Gottesdiensten mit einer Bitte zu mir: Sie wünschen sich einen Kalender. Ein Kalender kann für Menschen im Gefängnis zum wichtigen Wegbegleiter, zum Symbol der Hoffnung werden. Mit einem Kalender lässt sich die Zeit strukturieren. Wann darf ich mit dem nächsten Besuch meiner Liebsten rechnen? Wie viele Wochen muss ich noch herinnen bleiben?
Das Warten auf ein Leben in Freiheit ist auch mit sehr grundsätzlichen Fragen verbunden:
Werde ich einen neuen Anfang schaffen? Wo werde ich wohnen können? Werde ich Arbeit finden?
Auch in der Fremde des Gefängnisses geht das Leben weiter.
Unterstützung vor und nach der Entlassung wird dankbar angenommen.
Ich bin dann mal weg
Aufbrechen ist unabhängig von jeder Konfession.
„Ich bin dann mal weg“. Mit diesem Titel gelang dem deutschen Entertainer Hape Kerkeling vor einigen Jahren ein Bestseller. Er beschreibt in dem Buch seine Erfahrungen auf dem berühmten Jakobsweg.
Pilgern ist modern geworden – nicht erst seit diesem Buch. Menschen nehmen sich Zeit für sich, um andere Erfahrungen machen zu können als im Alltag.
Vor ein paar Jahren habe ich mich mit meiner Frau auch auf den Weg gemacht –
nicht nach Santiago, aber auf einen Teil des französischen Jakobswegs. Pilgern ist traditionell ja eher etwas Katholisches, in der evangelischen Kirche stand man Pilgerwegen und Wallfahrten bis vor kurzem eher distanziert gegenüber. Ich habe in meinem Theologiestudium gelernt, dass es für Evangelische keine heiligen Orte gibt, also braucht man auch keine Pilgerwege. So war meine innere Haltung leicht skeptisch.
Ich freute mich auf das Unterwegs-Sein mit meiner Frau, hatte aber keine großen Erwartungen in spiritueller oder religiöser Hinsicht.
Jeden Tag ein Stück gehen, allein oder gemeinsam, schweigen und reden, sich auf Begegnungen einlassen, Pflanzen am Wegesrand entdecken, einfaches Essen, singen und beten – es waren zwei Wochen, die mich verändert haben.
Der tägliche Aufbruch auf den Weg hat auch in mir etwas bewirkt – es ist etwas aufgebrochen.
In Norddeutschland gibt es inzwischen protestantische Pilgerwege, auch in Österreich wurde ein besonderer evangelischer „Weg des Buches“ eingerichtet. Er führt auf den Spuren der Bibelschmuggler in der Zeit des so genannten Geheimprotestantismus. Aufbrechen ist unabhängig von jeder Konfession.
Wo die wilden Kerle wohnen
Von seiner Traumreise kehrt Max als ein anderer zurück.
„Wo die wilden Kerle wohnen“ heißt ein Bilderbuch von Maurice Sendak.
Auf den ersten Blick ist es ein Buch für Kinder. Es handelt vom kleinen Max, der sich als Wolf verkleidet und nur Unfug im Kopf hat. „Wilder Kerl!“ schimpft die Mutter. „Ich fress dich auf“ sagt Max und muss ohne Essen ins Bett. In einer Traumreise segelt Max übers Meer an einen Ort im Urwald, wo die wilden Kerle wohnen. Schreckliche Ungeheuer sind es, aber Max zähmt sie mit einem Zaubertrick: Er starrt in ihre Augen, ohne zu zwinkern.
Da bekommen sie Angst und nennen ihn den wildesten Kerl von allen. Sogar eine Krone setzen sie ihm auf. Aber als Max den Duft von gutem Essen riecht, verabschiedet er sich von den wilden Kerlen und kehrt in sein Zimmer zurück, wo das Essen auf ihn wartet – und es ist noch warm.
Eine Geschichte vom Weggehen und Heimkommen – auch für Erwachsene!
Kennen Sie auch nächtliche Begegnungen mit Ungeheuern? Manche spielen sich als Herrscher auf, erzeugen Ängste, rauben Orientierung, wollen in die Irre führen.
Max läuft nicht davon. Er stellt sich den wilden Kerlen, den Ungeheuern und zähmt sie. Schließlich befiehlt er ihnen, was sie tun sollen. Von seiner Traumreise kehrt Max als ein anderer zurück.
Viele Menschen – Kinder und Erwachsene – wünschen sich, Ängste und Zweifel so besiegen zu können wie Max. Einen immer funktionierenden Zaubertrick gibt es wohl nicht. Mir fällt als ein wichtiges Wort dazu Vertrauen ein –oder anders gesagt: Glaube.
Weggehen und nicht mehr zurückfinden
Der Abschiedsprozess bei Demenzkranken kann manchmal sehr lange dauern
Von zu Hause weggehen und nicht mehr zurückfinden. Einer wachsenden Zahl von Menschen passiert das. In Österreich leben ca. 100 000 Demenzkranke.
Demenz, das heißt: bestimmte Fähigkeiten des Gehirns verabschieden sich.
Gedächtnisstörungen, Wortfindungsstörungen, Orientierungsstörungen treten auf. Einfache alltägliche Abläufe können nicht mehr bewältigt werden.
Die Betroffenen reagieren meist verunsichert und ziehen sich zurück, weil sie sich für ihre Krankheit schämen.
Im fortgeschrittenen Stadium erkennen Demenzkranke die engsten Angehörigen nicht mehr und wissen nicht mehr, wer sie selbst sind.
Nicht nur für die Betroffenen selbst, auch für die Familien bedeutet eine Demenzerkrankung eine hohe Belastung. Es geht um die Pflege, aber auch darum, mit den Persönlichkeitsveränderungen umgehen zu lernen.
Meine Großmutter hat ihre Söhne am Ende ihres Lebens wie Fremde behandelt: höflich, aber distanziert. Ihr Zimmer im Pflegeheim hat sie nicht mehr allein gefunden.
Demenzkranke sind Menschen, die sich immer mehr von ihrer Umgebung und schließlich von sich selbst verabschieden. Ein schmerzhafter Prozess für alle Beteiligten. Professionelle Begleitung und Unterstützung kann hilfreich sein.
In Wels hat das Diakoniewerk eine Demenzberatungsstelle eingerichtet.
Im sogenannten „Alzheimercafe“ gibt es für Angehörige die Möglichkeit, Erfahrungen auszutauschen und wichtige Informationen für die Bewältigung des Alltags zu bekommen. Ein ehrenamtlicher Besuchsdienst entlastet die pflegenden Angehörigen.
Der Abschiedsprozess bei Demenzkranken, das Weggehen kann manchmal sehr lange dauern. Da ist es so wie am Beginn des Lebens: Menschen brauchen verlässliche Begleitung. Jede und jeder von uns kann einmal betroffen sein. Unsere Gesellschaft funktioniert nur, wenn es einen Zusammenhalt gibt – beim Weggehen und beim Heimkommen.