Liebe Gemeinde,
Vertraut den neuen Wegen. Dieses Lied erinnert mich an unseren ersten Gottesdienst hier in Wels im September 2011. Zu diesem Lied haben Roland und ich gepredigt. Damals war ich aus Wien aufgebrochen und die evangelische Pfarrgemeinde Wels lag wie ein neues Land vor mir. Und ich hatte das Gefühl, angekommen zu sein, vorläufig zumindest. Angekommen an meinem langjährigen Ziel, meine Gaben als Pfarrerin in eine Pfarrgemeinde einzubringen.
Heute, gut zwei Jahre später, ist es anders, als ich mir vorgestellt habe. Ich habe – zum Teil sehr schmerzlich – erfahren, dass es mir im Augenblick nicht möglich ist, meine vierjährige Tochter und eine Pfarrgemeinde liebevoll zu betreuen, sodass es mir und meiner Familie dabei gut geht.
Deshalb habe ich mich nach einem langen Krankenstand und einer kurzen Rückkehr in den Dienst dazu durchgerungen, wieder aufzubrechen.
Es fällt mir nicht leicht.
Denn mit jedem Aufbruch bricht etwas ab.
Ich spüre dass ich manche Erwartung, die in mich gesteckt wurde, enttäuscht habe.
Ich muss hier vieles zurücklassen, was mir kostbar und wertvoll war. Z.B. die Konfirmanden oder meinen Kleinkindergottesdienst wachsKerze.
Und es zerbricht ein Bild, das ich mir von mir und meinem Leben gemacht habe. Es ist anders als ich mir vorgestellt habe.
Es hat mich in den letzten Wochen getröstet und ermutigt, dass ich mich biblisch betrachtet in bester Gesellschaft befinde. In der Bibel wimmelt es nur so von Menschen, die aufbrechen und unterwegs sind. Die Bibel ist voll von Weltenbummlern, Grenzgängerinnen, Gipfelstürmern, Vertriebenen, Flüchtlingen, Spaziergängerinnen und Suchenden. Menschen mit geradlinigen Lebensentwürfen kommen da, wenn überhaupt, nur am Rande vor. Lebenslaufdesign ist keine biblische Kategorie.
Vielmehr ist die Bibel voll Menschen, deren Vorstellungen zerbrechen. Menschen, die Schicksalsschläge erleiden, Menschen, mit Konventionen brechen, das ehemals Vertraute zurück lassen. Menschen, deren Leben durch äußere Umstände auf den Kopf gestellt wird oder die selbst beschließen: Hier muss ich etwas ändern, hier muss ich MICH verändern. Ja, das Aufbrechen und Unterwegssein könnte man als DEN biblischen Lebensstil bezeichnen.
Abraham – der Schutzpatron aller Beweglichen- der seine Heimat verlässt und Gottes Ruf in ein neues Land folgt. Elija, der vor König Isebel bis in die Wüste flieht, durch seine Todessehnsucht und Depression hindurchgehen muss, bis er in der Stille Gott auf neue Weise erfährt. Judit, die sich nach dem Tod ihres Mannes gegen alle Konventionen weigert nochmals zu heiraten und mit Geduld, List und Mut zur Heldin Israels wird.
In all diesen und vielen anderen Geschichten zeigt sich: In Lebensübergängen, in Lebensbrüchen – bricht nicht nur etwas ab, es bricht auch etwas auf. Es öffnet sich etwas. Wird durchlässig für Neues. Im Aufbrechen und Unterwegssein er-FAHREN diese Menschen etwas über sich und über das Leben. Und sie erfahren Gott auf neue Weise.
Werden Lebens-Brüche – wie der Tod des Mannes, das Verlassen der Heimat oder äußere Bedrohung nicht als Abbruch, sondern als Anstöße zur Neugestaltung des Lebens verstanden – dann sind sie der Boden, aus dem Neues wachsen kann, auch für die Umgebung und nachfolgende Generationen.
Aber auch vom Gegenteil erzählt die Bibel.
Wer nicht bereit ist, zum inneren und äußeren Aufbruch, der erstarrt. Wer ständig im Alten stecken bleibt, zerbrochenen Lebensentwürfen nachläuft, Wunden ständig neu aufschürft anstatt sie heilen zu lassen, ist nicht offen für neue Wege, die sich auftun. Bereits im ersten Buch der Bibel, im Buch Genesis begegnet uns das Sinnbild dieser Verstrickung. Lots Frau. Sie will bzw. sie kann die Schrecken von Sodom und Gomorra nicht zurücklassen. Sie kann und will nicht nach vorne schauen. Und so erstarrt sie zur Salzsäule.
Liebe Gemeinde,
aufzubrechen, muss nicht unbedingt heißen, von heute auf morgen alles auf den Kopf zu stellen.
Aber es bedeutet innerlich beweglich zu bleiben. Das eigene Leben immer wieder zu hinterfragen.
Wo unterwerfe ich mich Traditionen, die dem Leben nicht dienen? Wo bleibe ich meinen Plänen und Vorstellungen um jeden Preis treu, auch wenn ich mich darin nicht heimisch fühle? Wo verkrieche ich mich lieber – das kann ich nicht, das hab ich noch nie gemacht und was sagen denn die anderen, anstatt einfach mal auszuprobieren? Es kann nicht alles von heute auf morgen alles sofort verändert werden… aber diese Fragen brauchen wir, um lebendig zu bleiben. Als Menschen und als Pfarrgemeinde. Und häufig sind es viele kleine Schritte, die uns am Ende in ein neues Land führen.
Wir müssen bereit sein, uns von Gott unterbrechen zu lassen. In diesen wunderschönen Satz hat Dietrich Bonhoeffer die biblische Lebenshaltung des Aufbrechens und Unterwegsseins gegossen. Bereit sein uns von Gott unterbrechen zu lassen – in unseren Gewohnheiten, und Lebensentwürfen. Bereit sein los zu lassen, wenn es an der Zeit ist.
So wie die Jünger und Jüngerinnen, die Jesus in seine Nachfolge ruft. Simon Petrus und die anderen mit Frau und Haus am See. Auf dem Weg zur klassischen Fischerkarriere. Vielleicht ist da sogar einmal ein eigenes Boot drinnen. Und dann ein Ruf: Kommt mit mir. Folgt mir nach. Und sie lassen sich unterbrechen. Mitten im Alltag. Mitten im Tun. Und sogleich verlassen sie ihre Netze, ihren Vater im Boot und gehen mit. Folgen ihm nach.
Folgt mir nach! – mit dieser Aufforderung Wort macht Jesus klar, was es heißt an ihn zu glauben. Folgt mir nach – das legt nahe, dass Glauben und Beweglichkeit untrennbar miteinander verbunden sind. Ein so verstandener Glaube heißt sich unterbrechen lassen, heißt unterwegs sein, heißt mitgehen, heißt nachgehen.
Wir müssen bereit sein, uns von Gott unterbrechen zu lassen.
Die biblische Kultur des Aufbruchs ist keine Ratgeber für ein sicheres und bequemes Leben, das uns vor dem Scheitern bewahrt. Nachfolge ist kein starres Nachgehen auf gut ausgetretenen Pfaden. Kein sich Einrichten in der Komfortzone. Es war kein Spaziergang, den die Jünger da mit Jesus begonnen haben. Aber der biblische Glaube eröffnet uns eine neue, eine befreiende Perspektive auf ein Leben mit Gott. Wer sich unterbrechen lässt, wer unterwegs bleibt, wird mit diesem Gott Überraschendes entlang des Weges entdecken. Der wird in österlichem Staunen erfahren, dass gerade aus dem Auf – und Abgebrochenen neues Leben keimt. Der darf darauf vertrauen, dass Gott uns den Weg zum Leben zeigen will.
„Du tust mir kund den Weg zum Leben“, heißt es in Psalm 16.
In diesem Vertrauen dürfen wir unterwegs sein. Als Menschen und als Pfarrgemeinde.
Und in diesem Vertrauen breche ich auf.
AMEN